Das sogenannte Beschleunigungsgebot in Familiensachen (§155 FamFG) sei ineffektiv, weil es keinen verpflichtenden Charakter habe und Verletzungen dieser Vorschrift durch die Gerichte keine Sanktionen zur Folge hätten.
Die sogenannte Verzögerungsrüge (§ 198 GVG) böte nur finanziellen Schadensersatz, aber keine unmittelbare Wirkung und wäre daher kein ausreichendes Mittel Verfahren effektiv zu beschleunigen.
Schließlich habe das Familiengericht versäumt, Umgangsbeschlüsse wirksam zu vollstrecken. Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass der Deutsche Gesetzgeber Ordnungsgelder bis zu 25.000 € oder Ordnungshaft für jeden Einzelfall ermöglicht (§89 FamFG) und dass deswegen sehr gering festgesetzte Beträge keine effektive Maßnahme der Zwangsvollstreckung seien.
Der Gerichtshof hatte über einen Fall zu entscheiden, der im Deutschen Familienrecht leider noch immer als normal angesehen werden muss. Umgangsverweigernde Elternteile nutzten sämtliche Möglichkeiten, die Kinder bei sich zu behalten und sie dem anderen Elternteil nicht zum Umgang geben zu müssen. Es gab im vorliegenden Fall zunächst Umgangsbeschlüsse, die nicht eingehalten wurden und dann Ordnungsgelder zwischen 20 EUR und 80 EUR, insgesamt 300 EUR. Es verwundert nicht, das diese keine Wirkung zeigten. Weitere Verfahren wurden einfach nicht zeitnah oder gar zügig bearbeitet und es kam schließlich zu einem mehrjährigen Kontaktabbruch zwischen Vater und Sohn, welcher bis heute anhält.
Bemerkenswert ist die Entscheidung des EGMR, da dieser normalerweise nicht Einzelfälle zu Umgangsrechtsfragen entscheidet. Dies sei Aufgabe der nationalen Behörden, wie immer wieder betont wird. Offenbar haben die Beschwerden gegen Deutschland in den letzten Jahren derart zugenommen, dass nun doch anhand eines Einzelfalles die Missstände angeprangert werden mussten.
Man kann aus diesem Umstand gut erkennen, dass es die Deutsche Familienrechtspflege - was wir schon lange wissen und seit jeher anprangern - deutlich übertrieben hat. Allzu viele Fälle hätten schnell und insbesondere konsequent verfolgt werden müssen, sind es aber nicht. Hinter dem vermeintlichen Einzelfall, den der Menschenrechtsgerichtshof bei Individualbeschwerden nur entscheiden kann, steckt also eine für Deutschland peinliche Systemkritik. Es ist nicht nur der Fall Kuppinger gerügt worden, sondern ein ganzes menschenrechtswidriges Familienrechtssystem.
Es sei die Verpflichtung des Staates das Familienleben mit positiven Maßnahmen wirkungsvoll zu schützen. Der Gerichtshof hat auch daran erinnert, dass das gegenseitige Erleben des Miteinanders von Eltern und Kind ein fundamentales Element des Familienlebens im Rahmen des Artikel 8 der Konvention darstellt.
Der Väteraufbruch für Kinder e. V. gründete sich 1988, um Vätern die gleichberechtigte Teilhabe am Familienleben zu ermöglichen, auch wenn sie mit der Mutter nicht zusammen leben. Zeit mit den Kindern war und ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung. Rechtlich effektiv durchsetzbar war dies seinerzeit insbesondere für Väter nicht. Daran hat sich bis heute, wie der aktuelle Spruch des EGMR beweist, nichts geändert.
1989 wurde dann die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) verabschiedet, der Deutschland 1992 – lange Jahre unter Vorbehalten – beitrat. Hier wurden den Kindern eigene Rechte zugebilligt, unter anderem in Art. 18 UN-KRK das Recht des Kindes, „dass beide Elternteile gemeinsam für die Erziehung und Entwicklung des Kindes verantwortlich sind.“ Es gab also Anlass zur Hoffnung, dass mit den Kinderrechten auch die damit untrennbar verbundenen Elternrechte gestärkt werden würden.
Auch wenn man zugestehen muss, dass Änderungen in staatlichen Rechtssystemen Zeit benötigen so ist es unverständlich, wie einerseits Ende 2014 feierlich der 25. Jahrestag der UN-KRK begangen wurden, andererseits sich in den letzten 25 Jahren an den Gegebenheiten im Familienrecht nur wenig geändert hat. Unser Bundespräsident Joachim Gauck erklärte noch am 25. Jahrestag der UN-Kinderrechtskonvention feierlich „Ich wäre etwas wuschiger und engagierter, wenn ich sehen würde, dass in diesem Land Kinderrechte missachtet werden”. Nicht nur sein Engagement ist nun gefordert.
Auch wenn anzuerkennen ist, dass mittlerweile nicht verheiratete Väter unter gewissen Umständen auch gegen den Willen der Mutter an der elterlichen Sorge teilhaben können, so ist doch auch dies einzig aufgrund einer festgestellten Verletzung der EMRK (Fall Zaunegger gegen Deutschland) im deutsches Recht berücksichtigt worden. Ein gemeinsames Sorgerecht ist aber nutzlos, wenn ein Elternteil den Umgang mit dem anderen Elternteil folgenlos verhindern kann. Für die verantwortungsvolle Wahrnehmung des Sorgerechtes bedarf es eines gelebten Familienlebens. Hier fehlt die eigene Initiative der Bundesregierung(en), sich für die Einhaltung der Kinder- und Menschenrechte endlich proaktiv einzusetzen.
Immer öfter ist von Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu hören und zu lesen, dem gesellschaftlichen Wandel. Es werden die neuen Väter gesucht und die modernen Mütter. Gemeinsam als Eltern sollen und können sie sich auch nach der Trennung gleichberechtigt und verantwortungsvoll um ihre Kinder kümmern. Dies ist eine Vorstellung, die der Väteraufbruch für Kinder, der sich ebenso für die Rechte von Müttern einsetzt, sehr begrüßt. Es fehlt allerdings noch der rechtliche Rahmen, wie nicht nur das vorliegende Urteil des EGMR wieder einmal vor Augen führt. Allein 55.000 Umgangsverfahren pro Jahr zeigen deutlich, dass viele Eltern sich gerne mehr für ihre Kinder engagieren möchten.
Auch wenn Eltern sich in ihrer Beziehung gleichberechtigt um ihre Kinder gekümmert haben, nach einer strittigen Trennung bevorzugen die Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) noch immer das tradierte Rollenmodell des vorherigen Jahrhunderts. Eine weiterhin gleichberechtigte Teilhabe beider Eltern beispielsweise in Form einer Paritätischen Doppelresidenz oder gerechter Lastenverteilung in Bezug auf den Unterhalt der Kinder ist nicht vorgesehen.
Der Umfang des Kontaktes von Eltern zu ihren Kindern kann und darf nicht an der Weigerung des anderen Elternteiles scheitern. Hier muss der Staat effektive Regelungen schaffen, um die Rechte von Eltern und Kindern zügig umzusetzen. Die Kindheit ist nur ein sehr begrenzter Zeitraum, der nicht nachgeholt werden kann.
Im vorliegenden Fall dauert der Weg durch die Instanzen bereits seit 10 Jahren an, ohne dass absehbar ist, ob und wann der Vater nun regelmäßigen Kontakt zu seinem Sohn herstellen kann. Die vorliegende Entscheidung des EGMR rügt lediglich die Rechtspraxis in Deutschland, verschafft dem Vater jedoch noch nicht den seit langem gewünschten Umgang mit seinem Sohn. Die Deutschland auferlegte Entschädigung von 15.000 EUR zzgl. der Erstattung der Kosten des Vaters für den Rechtsstreit wiegen den fehlenden Kontakt zu seinem Sohn sicher nicht auf.
Das Ordnungsgeld von insgesamt 300 EUR gegen die Mutter für die wiederholt verhinderten Umgangskontakte hat keine Wirkung gezeigt, entspricht vielleicht 1% des Jahreseinkommens. Die Richter untergraben mit solchen Anordnungen ihre eigene Autorität und fördern die Entfremdung der Kinder von einem Elternteil.
Es bleibt zu hoffen, dass die Strafe von 15.000 EUR gegen Deutschland angesichts eines Bundeshaushaltes von 296,5 Milliarden EUR im Jahre 2014 schon alleine aus der moralischen Verpflichtung der Politik gegenüber ihren Bürgern eine bessere Wirkung erzielt und nun endlich ein Familienrechtssystem geschaffen wird, welches nicht nur den Anforderungen an eine moderne Familienpolitik, sondern vor allem auch der Einhaltung der Kinder- und Menschenrechte gerecht wird. Kinder und Eltern wollen nicht noch einmal mehr als 25 Jahre verstreichen lassen.
Wichtig wäre auch, dass die Rechte der Kinder wirksam durchgesetzt werden können. Obwohl die UN-KRK mittlerweile von Deutschland in vollem Umfang ratifiziert wurde, handelt es sich in Deutschland, anders als in anderen Ländern, um nicht mehr als Empfehlungen. Eltern können ihre verfassungsmäßigen Rechte durchsetzen – die Kinder können es noch nicht. Das Leitmotiv des Väteraufbruch für Kinder lautet seit jeher „Allen Kindern beide Eltern“.
Unsere Forderung an die Politik lauten daher:
- gemeinsame elterliche Sorge ab Geburt
- effektive Mittel zur Durchsetzung von Umgangskontakten und Elternrechten
- Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz
- eine gleichberechtigte Teilhabe der Eltern auch an der Alltagssorge ihrer Kinder auch durch die rechtliche Durchsetzung einer Paritätischen Doppelresidenz, sofern dies nicht dem Kindeswohl widerspricht
- Hinwirken aller an Verfahren Beteiligten auf Einvernehmen der Eltern in der frühen Phase von gerichtlichen Auseinandersetzungen, um vor allem die Kinder zu entlasten (Cochemer Praxis)
- Qualifizierung von Familienrichtern in den Bereichen Mediation, Psychologie und Soziologie speziell im Hinblick auf die familiendynamischen Prozesse, welche sich mit der Rechtssystematik nur unbefriedigend erfassen lassen
- Bedarfsgerechte personelle Ausstattung der Jugendämter in qualitativer und quantitativer Sicht, um deren Schutzauftrag auch effektiv im Sinne der Kinder umsetzen zu können. Zudem fehlt es an einer echten Fachaufsicht der Jugendämter.
- Verpflichtende Mindeststandards für Verfahrensbeistände, eine entsprechende Aufsicht und Registrierung (Kammer) sowie eine neutrale Vergabe der Aufträge, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den bestellenden Richtern zu sichern und alleine im Interesse des Kindes handeln zu können.
- Verpflichtende Mindeststandards für Gutachter in familiengerichtlichen Verfahren, eine entsprechende Aufsicht und Registrierung (Kammer) sowie eine neutrale Vergabe der Aufträge, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit von den bestellenden Richtern zu sichern.